Erlebte Stimme

Erlebte Stimme

aus: Heike Scholl-Braun: Studien zum vokalpraktischen Arbeiten in der Sekundarstufe

Welche Aufgabe hat meine Stimme eigentlich – und wie wirkt sie?

Die Stimme dient der Kommunikation. Aber ist das alles? Man muss stärker formulieren: Die Stimme ist ein Ausdrucksmittel; sie dient nicht nur der Weitergabe von artikulierbaren Informationen, sondern auch von nonverbalen Äußerungen.

Die Stimme ist ein Bild des Menschen: „Die Art, wie ein Mensch sich hält, äußert und gebärdet, spiegelt sich in seiner Persönlichkeit wider. Die Herkunft des Wortes ‚persona‘ von ‚personare‘ (durchtönen) betont das Gewicht der Stimme.“(1)

Wie kann ein Mensch seine Stimme am intensivsten erleben?

Er muss die Diskrepanz zwischen den logischen und den emotionalen Äußerungen überwinden.

„Singen ist, da es überwiegend in Verbindung mit Sprache geschieht, eine Kombination aus analoger und digitaler Kommunikation. Singen ist die Überwindung der Trennung von Emotionen und logischer Bedeutung. Singen zeugt von der gesamten Existenz des Menschen.“ (2)

Sänger werden sensibilisiert für ihre eigenen Gefühlsregungen, sie nehmen bewusster wahr. Aber nicht nur die Emotionen treten in das Bewusstsein, sondern auch die Stimme selbst und der Körper.

Über die Sensibilisierung für den eigenen Körper und die eigenen Gefühle lernt der singende Mensch neue Emotionen und deren Nuancen kennen und ausdrücken. Denn ein Sänger kann nur das wirklich ausdrücken, was er selbst nachempfunden hat:

„Was ein Sänger in seinem Herzen erlebt, ist nicht Selbstzweck. Es drängt nach Ausdruck, strahlt aus und teilt sich mit. Der Sänger verschenkt sein Erlebnis. Gesang ist nicht stille, egozentrische Befriedigung, die sich selbst genügt, sondern Glück, das sich mitteilen und weiter schenken will.“ (3)

Der Umgang mit der Stimme – besonders der Gesang – dient dem körperlichen und seelischen Befinden des Menschen.

(1) H. Coblenzer und F. Muhar: Atem und Stimme, S. 6

(2) E. Klusen: Singen, Material zu einer Theorie

(3) K.G. Rey: Vorwort zu L. Sanden: Physisches und psychisches Gesangserleben, S. 10